Anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome des Jahres 1938 werde ich diesen Monat in der Reihe 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland auf historische Stationen der Judenfeindlichkeit in Deutschland eingehen. Heute möchte ich zunächst in Erinnerung rufen, was am 9./10. November 1938 eigentlich geschehen und wie es dazu gekommen ist.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde eine Vielzahl deutscher Jüdinnen und Juden Opfer der von Josef Goebbels planmäßig organisierten und überwiegend von NSDAP und SA durchgeführten gewalttätigen Ausschreitungen: Erbarmungslos und brutal wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen, Synagogen und Schulen verwüstet, zertrümmert und angezündet sowie jüdische Menschen ausgeraubt und zusammengeschlagen, misshandelt und missbraucht, verhaftet oder ermordet.
Diese Ereignisse sind in Verbindung mit der am 28. Oktober 1938 angeordneten erstmaligen Deportation in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden zu sehen: Der zu diesem Zeitpunkt in Paris lebende junge Jude Herschel Grynszpan, dessen nächste Verwandte zu den unter katastrophalen Bedingungen Deportierten zählten, schoss in seiner verzweifelten Wut am 7. November in der deutschen Botschaft auf den Gesandtschaftsrat vom Rath.
Dieses Attentat nutzte Goebbels propagandistisch aus: Er verbreitete die Auffassung, es sei als Indiz für den Hass des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland und Herausforderung des Reiches zu verstehen, weshalb die Judenfrage neu zu bewerten sei. So schürte er den Judenhass innerhalb der deutschen Bevölkerung, wodurch es bereits am 8. November zu ersten durch die lokalen Parteiführer, allerdings noch nicht zentral organisierten judenfeindlichen Exzessen kam.
Goebbels versuchte zwar auch bzgl. der Gewalttaten vom 9./10. November den Eindruck zu erwecken - und auch später noch aufrechtzuerhalten - es habe sich dabei um ein spontanes Aufbegehren des deutschen Volkes gegen die jüdischen Nachbarn gehandelt. Er hatte deshalb Partei sowie SA lediglich als die nichtjüdische Bevölkerung provozierende und aufstachelnde Akteure vorgesehen. Doch sowohl in Deutschland als auch international blieb die politische Planung und Umsetzung der Gewaltaktion nicht verborgen.
Übrigens: Der für dieses Ereignis früher verwendete Begriff der Kristallnacht spielte ursprünglich auf die im Zuge des Pogroms zerschlagenen Fensterscheiben jüdischer Gebäude an und entstammt wahrscheinlich dem Volksmund. Später wurde er wohl als Hinweis auf die staatliche Organisation der die gesamte deutsche Bevölkerung betreffenden Aktion um den Zusatz Reichs- erweitert, wobei nun der Bestandteil -kristall- ironisch beschönigend für die Zerstörung des Guten und -nacht für die politisch finstere Zeit der NS-Diktatur verstanden wurde.
Inzwischen wird diese Art der Bezeichnung jedoch vielfach als euphemistisch empfunden und deshalb stattdessen u. a. der Begriff Reichspogromnacht genutzt. Auch dieser wird aber teilweise abgelehnt. Kritikpunkt ist v. a. das Fehlen einer Abgrenzung von früheren Pogromen, die im Unterschied zu den Ausschreitungen des 9./10. November 1938 lokal oder regional beschränkt waren. Außerdem gebräuchlich ist der Begriff Novemberpogrom(e), der jedoch aufgrund des Fehlens eines Hinweises auf die staatliche Organisation der Gewaltexzesse ebenfalls kritisch hinterfragt wird.
Letztlich kann die begriffliche Dialektik im Zusammenhang mit diesen Ereignissen insgesamt als wünschenswerter sprachlicher Stolperstein bewertet werden, der immer wieder zur Auseinandersetzung mit der Thematik anregt.
Quellen/Literaturhinweise:
Hofer, Walther: Stufen der Judenverfolgung im Dritten Reich 1933-1939. In Antisemitismus. Von der
Judenfeindschaft zum Holocaust. Hrsg. v. Herbert A. Strauss u. Norbert Kampe. Bonn 1984, S. 172-185.
Wikipedia: Novemberpogrome 1938. Bezeichnungen.
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